Ausgebrannte Autos auf dem Gelände des Al-Ahli Baptist Hospital im Zentrum von Gaza-Stadt nach einer nächtlichen Explosion.

Nachricht oder Propaganda: Warum die Unterscheidung oft schwer fällt

Stand: 20.10.2023, 15:52 Uhr

Was stimmt? Und was nicht? Der Krieg im Nahen Osten wird begleitet von Fake News, Unbelegtem und Ungenauem. Nicht nur die Medien sind gefordert in diesen Tagen, sondern auch das Publikum.

Von Ingo Neumayer

"Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit": Ein zynisches Zitat, das dem früheren US-Gouverneur Hiram Johnson zugeschrieben wird, und in Zeiten wie diesen gerne hervorgekramt wird. Und ja, es stimmt zwar, dass es derzeit angesichts von Unmengen an Bildern, Videos und Stimmen aus Israel und Gaza sehr schwierig ist, sich unabhängig und verlässlich zu informieren. Ganz so schnell sollte man die Wahrheit aber doch nicht abschreiben.

Pascal Siggelkow ist Redakteur beim "faktenfinder" der ARD, ein Format, das für tagessschau.de Fakten checkt und die Echtheit von Videos und Fotos prüft. Entsprechend viel zu tun hat er gerade angesichts der Situation im Nahen Osten. Denn die Masse der Videos, die in diesem Krieg kursierten, sei besonders herausfordernd. "Das hat eine Qualität angenommen, die wir in dieser Form noch nicht erlebt haben", sagte er dem WDR.

Hamas-Informationen nicht glaubwürdig

Die Corona-Pandemie, der US-Wahlkampf 2020, der russische Angriff auf die Ukraine, nun der Terroranschlag der Hamas auf Israel und dessen Folgen: Wenn weltpolitisch etwas Bedeutsames passiert, sind die Medien und sozialen Netzwerke voll. Hier den Überblick über wahr und falsch zu bewahren, ist generell eine Aufgabe, die immer schwieriger wird.

Im aktuellen Fall kommt erschwerend hinzu, dass es vor Ort in Gaza kaum verifizierbare Informationen gibt. Die Anzahl der unabhängigen Beobachter und Berichterstatter ist klein, die Informationshoheit liegt zunächst bei palästinensischen Quellen. "Die Hamas und deren Organisationen sind aber nicht glaubwürdig", sagt Siggelkow.

"Alles, was von denen kommt, muss erst einmal mit großer Skepsis gesehen werden." Pascal Siggelkow, Redakteur beim "faktenfinder"

Krankenhaus-Explosion in Gaza: Von wem kam die Rakete?

Ein aktuelles Beispiel ist die Explosion auf dem Gelände des Al-Ahli-Krankenhauses in Gaza, die sich am Dienstagabend ereignet hat, und die immer noch weltweit in den Schlagzeilen ist und zur Stimmungsmache gegen Israel genutzt wird. Nach dem Einschlag sprach die Hamas von einem israelischen Luftangriff, bei dem mindestens 471 Menschen getötet worden seien. Viele internationale Medien - auch manche im Westen - übernahmen diese Darstellung oder beriefen sich in ihren Berichten zunächst ausschließlich auf die Hamas. Und das, obwohl es laut Siggelkow gerade in den ersten Stunden nach solchen Ereignissen sehr viele Falschmeldungen gebe.

Gerade in bewaffneten Konflikten ist es angebracht, die Informationen beider Seiten unabhängig zu prüfen. Das gilt für den Krieg zwischen Russland und der Ukraine, und auch im aktuellen Fall der Anschläge der Hamas. So kursierten kurz nach den Hamas-Angriffen Berichte, dass in mehreren Fällen israelische Babys von den Terroristen geköpft worden seien. Ob das stimmt oder nicht, konnte bis dato nicht geklärt werden.

Verifizierung von Fakten kostet Zeit

Wer sauber arbeitet und die Wahrheit berichten will, ist in solchen Situationen oft zeitlich im Nachteil. Denn Behauptungen sind schnell gemacht und weiterverbreitet, vor allem, wenn sie ein bestimmtes Narrativ bedienen. Die Überprüfung von Fakten nach dem Zwei-Quellen-Prinzip dauert dagegen länger, sagt Siggelkow: "Leider ist es so, dass man oft ein bisschen abwarten muss, bis man mit einer Meldung herausgeht. Erst muss man genug Informationen zusammentragen, die eine gewisse These stärken."

Oder eben widerlegen. Denn inzwischen sieht auch die Nachrichtenlage beim Al-Ahli-Krankenhaus anders aus: Es mehren sich immer mehr Hinweise, dass es keine israelische, sondern eine fehlgeleitete Hamas-Rakete war, die die Explosion ausgelöst hat. Dafür sprechen Luftaufnahmen, Videos sowie Audio-Mitschnitte.

OSINT: Quellen, die jedem zugänglich sind

Viele dieser Informationen entstammen einem System namens OSINT, das für "Open Source Intelligence" steht. Hier werden öffentliche Informationen und Quellen zusammengetragen und gesichtet, die für alle zugänglich sind. Sophie Timmermann vom gemeinnützigen und unabhängigen Recherchezentrum "correctiv" nutzt OSINT täglich bei ihrer Arbeit, um beispielsweise Aufnahmen und Orte zu verifizieren. Sie schätzt die Transparenz des Systems. Zudem könnten damit auch Nutzerinnen und Nutzer Recherchen nachvollziehen und sich Quellen selbst ansehen.

Aufgabe an alle: Kritisch bleiben, Absichten hinterfragen

Doch nicht nur die Medien, auch das Publikum habe die Aufgabe, mit Informationen verantwortungsbewusst umzugehen, findet Timmermann. Gerade in Breaking News-Situationen, in denen viele Falschmeldungen kursieren, lautet ihr Rat: "Kritisch bleiben und Infos im Zweifel nicht weiterverbreiten." Nicht nur Journalisten, auch Leser, Zuschauer und User sollten sich immer fragen: "Woher kommt das? Und was könnte die Absicht sein, diese Information zu verbreiten?"

Opfer eines Krieges, um noch einmal auf Hiram Johnson zurückzukommen, sind immer die Menschen. Dass die Wahrheit dabei auch auf der Strecke bleibt, ist kein Automatismus. Letztendlich entscheiden wir darüber selbst.

Über dieses Thema berichten wir heute abend in der "Aktuellen Stunde" im WDR Fernsehen.

Unsere Quellen:

  • Die Interviews mit Pascal Siggelkow und Sophie Timmermann führte Ann-Kathrin Stracke für den WDR-Newroom
  • Nachrichtenagenturen Reuters, dpa, AFP
  • Faktenfinder von tagesschau.de
  • Faktcheck-Portal snopes.com
  • journalist.de